Klassenfahrt
Unvergesslich und prägend für meine Vorliebe für Frankreich war vor dem Abitur unsere Klassenfahrt 1967 in die Provence zum Kloster Notre Dame de Lumière am Fuß des Lubéron. Von hier machten wir Sternfahrten zu allem, was es gemäß unserer schwerpunktmäßig lateinisch-französischen Bildung zu sehen gab.
Arles, Avignon, Nîmes, Les Baux, um nur einige Orte zu nennen, waren schon beeindruckend; ein Museum wie das Petrarca Museum, ich glaub' bei Fontaine de Vaucluse, dagegen eher langweilig, entsprechendes schrieben wir in das Gästebuch. Dabei waren wir ganz brave Schüler, noch weit entfernt von baldigen Revolten, korrekt gekleidet mit Sakko und Krawatte, wie ich später zu meiner eigenen Überraschung auf einem Foto noch mal gesehen habe.
Neben allem Offiziellen genossen wir aber vor allem ganz einfach Frankreich mit seinem Ambiente und fühlten uns sauwohl. Zum Essen kam abends im Kloster der Rotwein gleich flaschenweise auf den Tisch, von denen direkt einige für nachher verschwanden.
Allerdings war es für mich an dem Abend, an dem ich in der Kneipe gegenüber dem Kloster meinen ersten (und zweiten und dritten und wie vielten) Pastis getrunken habe doch etwas viel und ich wurde aufopferungsvoll von Mitschülern ins Bett gebracht, nachdem ich im Garten das Abendessen sowie alle Getränke antiperistaltisch wieder von mir gegeben hatte.
In Aix-en-Provence auf dem Cours Mirabeau unter Platanen sitzen und einfach nur etwas trinken und gucken, insbesondere natürlich was sich dort an jungem Weiblichen bewegte, das war was nach unserem Geschmack und so bin ich immer wieder nach Frankreich zurückgekehrt.
Auf der Fahrt dahin gab es sie noch, die alte, einspurige Hängebrücke über die Durance, für die der Bus zu schwer war, so dass wir aussteigen und zu Fuß über die Brücke gehen mussten, die der Bus dann leer im Schritttempo überquerte. Heute führt eine Autobahn durch das Tal, das der TGV in der Nähe mit 300 km/h durchquert.
Gordes und Roussillon, das waren wahre Entdeckungen, Orte, die mich und meinen Freund Rainer begeisterten und wie wir sie später immer wieder ausgekundschaftet haben weit vor den Büchern eines Peter Mail.
Ein Höhepunkt am letzten Tag war dann der Ausflug in die Camargue. Just zu dem Zeitpunkt war auch die Zigeunerwallfahrt mit Stiertreiben und Zigeunermusik in den Straßen und dem provenzalischen, unblutigem Stierkampf in der Arena und das alles bei herrlichstem Sonnenschein (Unser Direktor hatte uns schon vorher gewarnt: "Ha, da fährt man juppheidi durch die Camargue und hinterher haste ein Sonnenbrändchen, an das de ‚du' sagen kannst", was wir -polyglott wie wir waren- einfranzösischsten zum ‚tutoyablen Sonnenbrändchen').
Jeder musste zu irgendeinem Thema ein Referat machen. Das Thema meines Freundes Rainer war eben die Camargue*, deren wilde Natur mit den Etangs, den weißen Pferden, den Stieren und den traditionellen Häusern der Gardiens er lobte, aber auch die Ansätze zu deren Kultivierung und wirtschaftlichen Nutzung erwähnte und so mit dem nachdenklichen Satz endete: "Noch liegen die bunten Fischerboote wie van Gogh sie gemalt hat am Strand, aber wie lange noch?" (Siehe unten).
Doch die Camargue hat nichts von ihrem Reiz verloren, wie oft bin ich seitdem immer wieder da gewesen.
Frankreich I
Wie ich studierte mein Freund Rainer Architektur, er allerdings in Hannover und ich in Aachen, so dass wir uns nicht allzu oft sahen. Daher ergriffen wir mehrmals die Möglichkeit zu gemeinsamen Reisen nach Frankreich, denn der Virus unserer Klassenfahrt hatte uns infiziert und als angehende Architekten begeisterten wir uns gleichermaßen für alte Dörfer und bauliche Strukturen aber auch die Landschaften wie überhaupt das Leben in Frankreich.
Im September '72 starteten wir zu unserer ersten Fahrt. Mitten in der Nacht um 3 Uhr ging es schon los. Die linksrheinische Autobahn war wohl noch nicht fertig und wir hatten uns eine viel interessantere Route quer durch die Eifel und Pfalz über Trier und Kaiserslautern (in Karten meist nur als K'lautern angegeben, was allein auf uns schon unheimlich anziehend wirkte) ausgesucht und wollten bei Karlsruhe auf die Autobahn stoßen. "Wann meint ihr denn, dass ihr auf der Autobahn wärt?" meinte schimpfend ein Freund, der so was nicht verstehen konnte und keinen Reiz an K'lautern und Trifelsen sah und nicht schnell genug auf der Autobahn sein konnte.
Rainer hatte noch ein 50 Liter Gefäß, ein mit PVC ausgekleideten Pappkarton und keinesfalls ein zulässigen Reservekanister, mit Diesel dabei, den wir vor der Schweizer Grenze nachfüllen wollten. Das ging aber nicht, da das Auto so wenig verbrauchte und der Tank noch mehr als halb voll war und so sind wir trotz Zoll und Unzulässigkeit mit unserer Reserve noch tief bis nach Frankreich rein gefahren.
In Basel waren wir früh genug, um uns dort ein wenig umzuschauen und bei Bern mussten wir unbedingt die Siedlung Halen sehen, seinerzeit ein Mekka für alle Architekten.
Schließlich mussten wir noch unser Zelt in irgendeinem Kaff bei Fribourg abholen. Das war ein besonderes Zelt in Igluform zum Aufblasen, das es nicht überall gab und Rainer hier günstig bei ‚Brülhard-Zosso' bestellt hatte.
Nur mussten wir Brülhard-Zosso noch finden und fragten einen Postboten auf der Straße. "Cha, Brülhard, ich kenne viele Brülhards, aber keinen, der Zosso heißt." Durch Inzucht hieß das ganze Kaff wohl Brülhard, so dass dieser Name nichts weiter sagte und es auf den zweiten ankam. Schließlich hatten wir die Zossos doch noch gefunden und konnten unser Zelt nach einem langen Tag aufbauen.
Leider gelang es uns beim Zeltabbau nie, das Zelt so klein zu falten, dass es wieder in seine originäre Hülle passte.
Durch die Alpen ging es weiter, durch die Chartreuse ("Jupp-hei-di durch die Chartreuse") und Grenoble an den Nordrand der Provence und westlich über die Ardèche und am Tarn entlang nach Andorra.
Rainer hatte eine neue Fotoausrüstung und ich hatte seine alte gekauft: eine Praktika Spiegelreflexkamera mit Normal-, Weitwinkel- und Teleobjektiv. Wenn wir zusammen aufkreuzten, kamen wir uns vor, wie ein professionelles Kamerateam. Und wir kreuzten viel auf. Manchmal kamen wir kaum weiter, immer wieder entdeckten wir unterwegs Motive, seien es einzelne Häuser und Ruinen oder kleine Dörfchen und Orte.
Das war es, was uns anlockte, alte Gemäuer, unverfälscht und geadelt durch die Spuren von Zeit und Gebrauch. Wir schwärmten uns gegenseitig davon vor und mussten dabei auf der Hut sein, dass wir einander nicht ins Bild liefen. So habe ich mengenweise Bilder von Frankreich, aber nur zwei, drei von Rainer.
Zur Ergänzung seiner Fotoausrüstung hatte Rainer auch noch eine Kamera von seinem Vater dabei, ein russisches Exemplar. Er hatte sie auf die Rückbank gelegt. Das Problem war hier das Türschloss, das sich schon mal gerne während der Fahrt selbstständig öffnete. Er hatte darum die Griffe innen mit einem Gummiband verbunden. In einer besonders flott genommenen Rechtskurve reichte dessen Spannkraft aber nicht mehr ganz aus, die Tür öffnete sich für nur einen kurzen Moment und nur einen Spalt breit, aber gerade genug, dass die Kamera, von der Zentrifugalkraft getrieben, elegant aus dem Wagen auf die Straße kollerte.
Eigentlich so was von Maßarbeit, dass man so was willentlich nicht hinbekommt und wir deshalb daran unsere Freude gehabt hätten, hätte es sich nicht um die väterliche Kamera gehandelt. Aber als robustes russisches Modell hatte sie zum Glück außer einem Kratzer am Lederetui keinen Schaden genommen. Der Vater hat das aber sicherheitshalber nie erfahren dürfen.
Von Andorra hatte uns ein anderer Freund vorgeschwärmt und einen Campingplatz empfohlen, auf dem er schon mehrmals seinen Urlaub verbracht hatte und dessen Pächter zum Duzfreund geworden war.
Sorgsam hatte er uns den Weg mit seiner krächzenden Stimme beschrieben: "Da müsst ihr fahren, passt auf, von wo kommt Ihr?". Und: "Da ist eine Tankstelle, da fahrt ihr geradeaus, dann kommt ein Polizist, der steht immer da, da fahrt ihr weiter geradeaus."
Es war nicht schwer zu finden, es ging ja immer geradeaus. Die Tankstelle kam, "die steht immer da", persiflierten wir, und schließlich landeten wir auf dem Campingplatz. Wir fanden es dort aber so öde, dass wir schleunigst weiter fuhren ans Mittelmeer. Von den Pyrenäen an folgten wir der Küste bis (jupp-hei-di) in die Camargue.
Ich erinnere mich noch genau daran, wie wir durch Narbonne-Plage, das wir nach einem so entzückenden Ort wie Gruissan entsetzlich langweilig fanden, fuhren und immer weiter bis ans Ende des Nachbarortes (St. Pierre). Eigentlich war dort auch nach unseren detaillierten Michelin-Karten die Welt zu Ende, doch ein kleiner unbefestigter Weg führte weiter. Klar, dass wir den nehmen mussten, wussten wir auch nicht wohin. Er führte durch flache Landschaft zu Füßen des La Clape Gebirgszuges, vorbei an Etangs und schließlich durch Weinfelder.
Ein alter Weinbauer stand inmitten der Reben, blickte auf, als er ein Auto, es war wohlgemerkt ein Peugeot, hörte, guckte, wer wohl drin wäre und schaute uns noch lange erstaunt nach, als er in uns keinen Bekannten entdeckt hatte. Wir beiden hatten einen Sensor für so etwas und freuten uns diebisch, dass wir durch solche Gegenden fuhren, wo offenbar keiner damit rechnete, dass hier je Fremde vorbeikamen. (Auf Autobahnen konnte man so was ja niemals erleben.)
Diese Szene spielte sich zu Füßen des Weingutes La Pagèze ab, just jenes Gutes auf dem ich zwei Jahrzehnte später fast 10 Jahre lang mit Familie den Urlaub verbringen sollte. Als wir dann dort das erste Mal hinkamen, rührte mich der Schlag: "Mensch das war doch da, wo ich mit Rainer war und uns der Bauer noch nachgeschaut hat!"
Die Karten waren wichtigstes Utensil, um auf möglichst kleinen Nebensträßchen den verheißungsvollsten Orten auf Umwegen zu folgen. Wir bevorzugten die weißen oder auch die gelben Straßen. Die roten mieden wir tunlichst, Autobahnen waren tabu. "An der nächsten Kreuzung müssen wir über eine dicke rote Straße, weiter auf einer gelben."
Die Orientierung war aber oft nicht so leicht, da die Straßen nicht die Farben wie in der Karte hatten, sondern, wie wir fast enttäuscht feststellen mussten, alle in grauem Asphalt. Schilder konnten nur da weiterhelfen, wo welche standen und wenn irgendwo eins stand, dann oft unsichtbar im Rücken oder es waren andere unbekannte Orte ausgeschildert als die, wohin wir wollten. So sind wir oft auf's Geratewohl gefahren, siehe La Pagèze.
In der Camargue waren wir mit anderen Studienfreunden verabredet mit denen wir zusammen einige Tage am Strand verbrachten oder auch Tagesausflüge machten. So auch an einem Tage, an dem gerade kein Strandwetter war.
Es war in Sommières, wo wir wie üblich herumliefen und fotografierten und mich dabei ein typischer Franzose mit Baskenmütze auf dem Kopf und Zigarette im Mundwinkel kaum verständlich ansprach: "Pas très beau aujourd'hui." "Non, pas très beau", nein kein schönes Wetter.
Er war auch nicht besser zu verstehen als er in Deutsch fortfuhr und sich als Deutscher, namens Eger entpuppte. (Eger, was für ein Name und wie sprechen das wohl die Franzosen aus?) Er wollte wissen, was wir so machten und fand das prima. Er seinerseits war Maler, nein kein Kunstmaler aber er hatte eine besondere Spezialität, er malte Reklameschilder und reiste damit ambulant durch ganz Südfrankreich und kannte jeden Ort.
So gab er uns gerne Tipps und kreiste mit Bleistift alle Orte ein, die er als empfehlenswert ansah. Wir könnten ihn auch gerne besuchen, er wohne in Anduze, wo er sich ein altes Schloss herrichte. Die Michelin Karte, auf der er die Orte eingekreist und seine Adresse eingetragen hat, habe ich bis heute wie eine Reliquie behalten.
Unsere Studienfreunde hatten noch den besonderen Wunsch, das Weingut ‚Listel' mit seinem bekannten Sand-Wein in unserer Nähe zu besuchen. Für Rainer und mich war das nicht so die Attraktion, aber wir fuhren zusammen hin.
Da lag nun das Weingut in praller Sonne. Wir wurden durch die Kellereien mit großen Tanks geführt und zum Schluss ins Degustier-Stübchen, das mit Vorhängen vor der gleißenden Sonne anheimelnd abgedunkelt war, ein Problem mit dem deutsche Winzer wohl weniger zu kämpfen haben.
"Dégustez Messieurs, le célèbre vin de sable de Listel", animierte der Führer. Listel, das brachte uns darauf, dass es doch eigentlich zünftiger wäre, wenn der Führer auch lispeln würde und wie der Satz dann klingen würde...
Gegenüber uns folgte die übrige Besucherschar andächtig und ehrfurchtsvoll der Führung, dabei auch eine Frau in einem Rollstuhl. Später auf langer gerader Landstraße trafen wir wieder auf diese Frau, die hier mit dem Rollstuhl unterwegs war. "Schade, das die nicht soviel getrunken hat", sagten wir und malten uns aus, wie die Frau in vollem Kopf mit ihrem Rollstuhl auf der Landstraße Zick-Zack führe und zum Schluss vielleicht noch im Graben landen würde, dank des ‚célèbre vin de sable de Listel'. So hatte sich der Besuch doch noch gelohnt.
Oft bin hier immer wieder vorbeigekommen und hörte in Gedanken daran den Führer vermeintlich lispeln: "Dégustez Messieurs, le célèbre vin de sable de Listel".
Danach führte uns der Weg weiter durch die Provence und systematisch suchten wir alle Orte auf, die uns der Eger empfohlen hatte. Sie waren allesamt genau das, was wir suchten. ‚Eger-Orte', nannten wir sie. "Dann fahren wir so und so und dann kommen wir wieder in einen Egerort."
Neben ihrer pittoresken Schönheit hatten die Orte (fast) alle eins gemeinsam: Irgendwo gab es ein Antiquitätengeschäft mit einem Schild ‚Antiquités' in schwungvollen, gotischen Lettern mit besonders großem ‚A', dem ‚Eger-A', wie wir es nannten, denn es stand für uns außer Zweifel, dass diese Schilder das spezielle Produkt vom Eger waren.
Er hatte uns auch Auribeau empfohlen, einen Ort am Fuß des Lubéron, wo ein deutscher Maler namens Werner wohnen sollte. Wir müssen auch noch den Werner besuchen, ermahnten wir uns und nahmen schließlich den Weg nach Auribeau, das sich als verschlafenes Kaff entpuppte.
Mit Werner hatten wir aber nichts am Hut, sondern fragten unsicher über den weiteren Weg einen Jungen, ob wir geradeaus fahren konnten. Der Junge war höflich und sagte "Ja", der Weg sei aber nicht besonders gut. Ein Grund mehr für uns, ihn zu nehmen.
Er führte hinauf auf den Kamm des Lubéron und bot uns einmalige, atemberaubende Ausblicke. Dass der Weg wirklich nicht gut war, machte ihn für uns nur noch attraktiver. Unterwegs kreuzte eine Schafherde den Weg. Auf alten Wegen führen hier die Schäfer im Frühjahr ihre Herde von der Crau hinauf in die Alpen und im Herbst wieder zurück. Als wir schließlich auf der Südseite wieder auf eine asphaltierte Straße stießen, war unser Weg von dort als verboten gekennzeichnet.
Aber auch in der Camargue sind wir über Pisten durch unberührte Natur gefahren, eigentlich unbeabsichtigt einfach dadurch, dass wir uns verfahren haben, ich des besseren Ausblicks wegen bei geöffnetem Schiebedach auf dem Dach sitzend, was heute auch nicht mehr möglich ist.
Vom Lubéron führte uns der Weg an Les Mées vorbei. Hier gab es irgendwelche Versteinerungen auf die Rainers Vater ganz scharf war und uns mehrmals ans Herz gelegt hatte, ihm Steine mitzubringen. "Nehmt aber nur die größten und schönsten", hatte er mehrmals gemahnt. Wir suchten und suchten und fanden hin und wieder ein kümmerliches Exemplar. "Und denk dran, nur die größten und schönsten", riefen wir uns gegenseitig zu.
Inzwischen war Mittag schon lange vorbei, die geheiligte Zeit des Mittagessens in Frankreich, wo man aufpassen muss, dass man nicht von der Polizei erwischt und bestraft wird, weil man nicht bei Tisch ist (bzw. isst), wie wir uns vorgaukelten.
Also war es höchste Zeit, die Suche abzubrechen, die Versteinerungen hin oder her, und in den nächsten Ort in das dort ortsansässige Restaurant zu fahren. Es gab zwar einen kleinen Ort in der Nähe, aber kein ortsansässiges Restaurant. Also weiter ins nächste Dorf. Wieder kein Restaurant. Frankreich ist stellenweise dünn besiedelt und die Orte weit auseinander. Wir erfuhren dies und gerieten schon bald in Panik. Es ging sicher schon auf halb zwei oder zwei zu, bis wir fündig wurden.
Auf dem platten Land sind die Essenszeiten streng und so betraten wir schon mit schlechtem Gewissen das Restaurant und fragten, ob wir noch was haben könnten. Der Wirt nickte und verschwand in der Küche ohne uns eine Speisekarte zu bringen. Stattdessen kam er mit einem Krug Rotwein, Brot und einer Wurstplatte wieder.
Wir waren etwas ratlos, wir hatten ja noch nichts bestellt und bekamen nun das. Vielleicht war die Küche auch schon geschlossen und der Wirt hat zu der späten Stunde uns nur noch gegeben, was er noch hatte. Wir langten also kräftig zu, der Wirt räumte ab und verschwand wieder in der Küche, uns wieder ratlos zurücklassend. Dann kam er, ich weiß nicht mehr mit was, wieder, jedenfalls folgte dem dann noch ein Hauptgang, dann der Käse, dann der Dessert. Ein ganzes klassisches Menu hatte sich noch abgewickelt.
Später haben wir das auf dem Land des Öfteren erlebt, dass es keiner Karte bedarf, um dem Gast was Gutes vorzusetzen.
Die Restaurantbesuche waren aber die Ausnahme, meistens kochten wir uns selber. Vorher hatten wir beim GB (eine belgische Handelskette) in Eupen sowie auch bei Aldi jede Menge Konserven als Proviant eingekauft, die dann weggefuttert wurden.
Ein Markenname ist mir noch in Erinnerung. Wir hatten von der Firma mehrere Büchsen mit, aber schon die erste schmeckte uns nicht. Es war aber selbstverständliche Pflicht, dass wir dennoch alle Dosen aßen. "Heute Abend essen wir wieder eine Dose leckeren Fraß", erbauten wir uns schon zuvor in Vorfreude, wobei wir das Wort ‚Fraß' lang zogen, ‚Fraaaß', wie ‚baaah'.
Rainer hatte es aber auch auf frische Einkäufe angelegt, so freute er sich schon auf Ratatouille. Ich hatte das Wort noch nie gehört "Ratta-was?". Ich muss zugeben, meine Mutter kochte gut aber deutsch-bürgerlich, etwas anderes kannte ich nicht und erst Rainer hat mir da neue lukullische Welten aufgetan. Wegen der langen Kochzeit sind wir aber dann doch nie zu einem Ratatouille gekommen (heute ist es für mich ein Standardgericht).
Salat haben wir aber gemacht und für den braucht man bekanntlich Essig und Öl. So sind wir Essig und Öl kaufen gegangen. Einen schönen Rotweinessig hatten wir bald gefunden und praktischerweise stand direkt daneben auch ein wunderbar goldgelbes Öl.
Beim Bereiten der Salatsauce spuckten wir aber aus: es war kein Öl, sondern heller Essig. Statt Essig und Öl hatten wir Essig und Essig gekauft.
Eines hat uns aber immer geschmeckt, das knusprige Baguette. Zum Frischhalten wickelten wir es immer in unser rot-weiß kariertes Tischtuch ein und legten es ins Rückfenster. Zumindest muss man ein Baguette vorweisen, wenn man mittags in eine Polizeikontrolle kommt, so spannen wir.
In St. Michel l'Observatoire, wo der Bäcker laut irgendeinem Reiseführer statt vier fünf Schnitte ins Brot macht, wollten wir Nachschub kaufen. Wir schlenderten durch den Ort an der Bäckerei vorbei. Die ganze Familie saß im Haustüreingang nebenan und grüßte uns als übliche Straßenpassanten.
Als wir die Bäckerei betraten erhob sich eine Tochter, ging durch die Haustür und kam dann von hinten in den Laden, wo sie uns neuerlich begrüßte, diesmal offiziell als Kunden. Mit feinem Gespür registrierte Rainer und ich so was amüsiert.
Für die Rückfahrt kannte Rainer eine Spezialstrecke. Landschaftlich wunderbar führte sie parallel zur Rhône kurvenreich bergauf und bergab durch die Cevennen. Er hatte sie schon mit seinen Eltern auf ihren Reisen nach Spanien befahren als touristisch attraktive Alternative zu stumpfsinniger Autobahn.
Jahre zuvor hatte er sie auch anderen Mitschülern empfohlen, als diese nach Spanien wollten. Schimpfend kamen sie zurück. In Erwartung einer kurzen, schnellen Verbindung wollten sie hier nachts durchrauschen und haben sich dann zeitaufwendig total verfranst und landeten mitten in der Nacht am Ende einer Straße vor einem Scheunentor. Erwartungen und Geschmäcker sind halt unterschiedlich und manche sind unserer Sträßchen nicht wert und fahren eben besser über die Autobahn.
Am letzten Abend aßen wir noch spät in einem Restaurant in den Vogesen. Ähnlich Les Mées fragten wir die Bedienung, ob es noch was gäbe, diese fragte den Wirt, dieser musterte uns erst einmal, um zu sehen, wer wir denn überhaupt seien und nickte dann zustimmend. Das folgende bodenständige Menu begann mit einer Kohlsuppe.
Tief in der Nacht kamen wir dann durch Ardennen und Venn an. An der Ampel in Kettenis war kurz zuvor ein schwerer Unfall passiert. Auch so kann es gehen.
Frankreich II
Zwei Jahre später hatten wir eine nächste gemeinsame Reise vor mit dem Schwerpunkt Auvergne. Mit Rainers Wagen war aber wieder mal irgendwas und auch sein Vater konnte uns seinen Wagen nicht leihen. Meine Eltern hatten aber gerade eine Reise vor. So brauchte mein Vater, der ja als Arzt nie auf seinen Wagen auch nur für Momente verzichten konnte, da er ja möglicherweise gerade dann zu einem Herzanfall gerufen werden konnte, den er aber dann , falls dies mal der Fall gewesen wäre, doch an den Notarzt weiter verwiesen hätte, also mein Vater brauchte seinen BMW gerade mal nicht und überließ ihn uns freundlicherweise, wofür ich ihm heute noch dankbar bin.
Zum Auftakt deckten wir uns mit neuem Fotogerät ein, Rainer kaufte eine große, tolle Olympus, einem Star von Spiegelreflexkamera, ich eine weitere Praktika, diesmal mit eingebautem Belichtungsmesser und ein weiteres Tele. So war ich mit zwei Kameras für Dias und Schwarz-Weiß ausgerüstet. Wie Rainer schon zuvor habe auch ich dann nach seinem Beispiel damit begonnen, selber Schwarz-Weiß-Abzüge zu machen.
Diesmal reisten wir durch die Ardennen über Aachens Partnerstadt Reims an. Übrigens hatten wir uns auch ausgemalt, was es doch für eine interessante Aufgabe wäre, für deutsche Städte die passende französische Partnerstadt herauszufinden oder umgekehrt. Wer macht so was eigentlich?
In Reims besichtigten wir zunächst St. Rémy. Die Kirche liegt an einer breiten Straße, die die Franzosen bis auf zwei Fahrspuren praktischerweise als Parkplatz nutzen. So einem Vorbild folgten wir gern. Es war wohl gerade die Hochzeitsfeier einer großen Persönlichkeit vorbei und mit dem Brautpaar verließ eine große Menge Volk die Kirche, die wir uns dann in Ruhe ansehen konnten. Wieder aus der Kirche zurück, fanden wir unseren Wagen aber dann einsam und allein mitten auf der Straße allseits vom Verkehr umtost wieder. Mit Ende der Hochzeitsfeier hatte sich der vermeintliche Parkplatz in Wohlgefallen aufgelöst.
Aber auch an der Kathedrale parkten wir etwas unorthodox im Halteverbot. Als wir zurückkamen, kam direkt ein Polizist auf uns zu und fragte auf Deutsch, jede Silbe scharf akzentuierend: "Darf-man-das-in-der-Bun-des-re-pu-blik?". Wir malten uns aus, wie der Polizist die ganze Zeit um das Auto herumgeschlichen ist und auf uns gewartet hat, um uns seine Deutschkenntnisse vorzuführen. Jedenfalls war es damit gut und er hat uns fahren lassen.
Mit der Auvergne entdeckten wir ein uns bis dahin unbekanntes Frankreich und Örtchen, die auch dem Eger gefallen hätten, obwohl - oder eher gerade weil - hier die Reklameschilder in gotischen Lettern fehlten.
Zu unserm Komfort hatten wir einen kleinen Kühlschrank dabei, der über den Zigarettenanzünder als Steckdose vom Wagen mit Strom versorgt wurde. In Aurillac hatten wir es abends versäumt, den Stecker zu ziehen und am anderen Tag war die Batterie leer. Auf dem Platz waren auch deutsche Mädchen, die wir baten, uns anzuschleppen. Die Chauffeuse war jedoch gerade unter der Dusche und wir sollten einen Moment warten.
Sofort kam ein Franzose mit einem Citroen und wollte uns helfen, aber nicht anschleppen, sondern einfach nur Stoßstange an Stoßstange andrücken. Das passte auch, bis am Ende einer geraden Strecke wir in eine Kurve übergehen mussten. Dabei verrutschte seine Stoßstange an das Rücklicht unseres BMW, das schon einen ersten Riss bekam aber in dem Moment war der Wagen auch angesprungen.
Später war ich zu Hause mal mit einer Französin, einer Austauschlehrerin, ins Gespräch gekommen und hatte sie nach ihrem Heimatort gefragt. "Das ist ein kleiner Ort, den keiner kennt." Ich insistierte aber und sie kam aus - Aurillac. Nicht nur, dass ich den Ort kannte sondern dazu auch diese Geschichte habe.
In einer einsamen Gegend hatte es uns auf einen Campingplatz verschlagen, der nur aus einer Wiese, einem Bach und einem Plumpsklo bestand. Mir war das eigentlich zu primitiv, aber was anderes stand nicht zur Auswahl. Außerdem stand ansonsten nur ein einziges Zelt mit einer blauen Ente davor da. In gebührender Entfernung bauten wir unser Zelt auf. Sofort beäugte uns neugierig ein alter Mann, sofort als der ‚Op' betituliert, der aus dem Zelt kam.
Hatten wir es uns gedacht, er ließ es sich nicht nehmen, uns persönlich seine Aufwartung zu machen, was nicht ganz einfach war. Er konnte kaum gehen und bewegte sich nur mühsam Schritt vor Schritt mit dreifüßigen Krücken in jeder Hand auf uns zu. Das Sprechen klappte auch nicht viel besser und aus seinem zahnlosen Mund kamen kaum verständliche Worte heraus wie: "Manhem" und "Frollhem". Er war in deutscher Kriegsgefangenschaft in Mannheim gewesen und schwärmte jetzt noch von den Fräuleins.
Es war uns schon öfter passiert, dass wir bei Ortsbesichtigungen als Deutsche von alten Männern angesprochen worden waren, die von deutscher Gefangenschaft berichteten. Zuerst war uns das etwas peinlich, zumal wir oft in verlassenen Orten gewesen waren, die kaum noch eine Handvoll Bewohner hatten und auf dessen unvermeidlichen hahngekrönten Kriegerdenkmal sicher mehr Tote verzeichnet waren, als der Ort jetzt noch an Lebenden aufwies.
Wir merkten aber, dass der Krieg für diese Männer, das zentrale Erlebnis in ihrem Leben war, dank dessen sie überhaupt mal aus ihrem Dorf heraus gekommen sind. Nun waren sie froh noch mal etwas von dem, was sie als deutsch in Erinnerung hatten, anzuwenden. Der Op verbrachte nun den ganzen Sommer hier oben, wie er berichtete, dann bewegte er sich wieder langsam zurück auf sein Zelt zu.
Ich erinnere mich noch gut an den folgenden Morgen: die Sonne erhob sich gerade über den Hügeln und schien auf die taubenetzte Wiese. Was gab es herrlicheres, als sich am Bach im frischen Wasser zu waschen?
Zwei Nächte blieben wir dort. Ein Restaurant war in der Nähe, eins ohne Speisekarte. Der Wirt leierte uns das runter, was wir auswählen konnten. Am nächsten Abend wurden wir schon als Stammgäste begrüßt.
Als fertiges Eis gab es damals ein Produkt mit dem geheimnisumwitterten Namen ‚Le Mystère'. Nach üppigem Essen bestellte sich Rainer ein solches, ‚Le Miracle', wie er sich noch versprach. Der Wirt servierte das Eis in elegantem Bogen und betonte mit ortsüblichem Rollenden ‚r' und ausgesprochenem End-e: "Voilà, le mystère". Wir bezahlten sehr schnell, denn Rainer hatte sich überfressen und ihm wurde schlecht. An einem Baum hat er sich dann übergeben "Voilà, le mystère" kommentierte ich.
Ein anderes Restauranterlebnis hatten wir am Tarn. In einem vollbesetzten Lokal fanden wir gerade noch in drangvoller Enge Platz. Um uns herum nur Franzosen und so konnten wir ungeniert zu den einzelnen Leuten unsere Bemerkungen machen. Besonders hatte es uns die lange spitze Nase des Kellners angetan, von der wir mutmaßten, dass sie "ob des reichen Trinkgeldes" entstanden sei.
Jedenfalls hatten unsere Tischnachbarn ihre Mahlzeit beendet und erhoben sich, um das Lokal zu verlassen, wobei der Mann es sich nicht nehmen ließ auf Deutsch zu sagen: "Da haben Sie etwas mehr Platz." Franzosen sind also durchaus des Deutschen mächtig, wie wir schon mehrfach gesehen haben.
Am Tarn hatten wir uns auch mehrere Tage auf einem Campingplatz eingerichtet. Just campten da auch zwei nette junge deutsche Mädchen. Wie aber mit denen ins Gespräch kommen? Der Platz lag etwas außerhalb von St. Enemie und wir bekamen mit, dass ein Mädchen zu Fuß aufbrach, um etwas einzukaufen.
Sofort war unser Plan fertig. Wir überlegten, was wir noch dringend brauchen könnten - uns fiel nichts anderes als eine Flasche Rotwein ein - und Rainer fuhr los und sollte dann unterwegs anhalten und dem Mädchen anbieten, sie mit zu nehmen, da wir ja zufällig beide einkaufen mussten.
Rainer wollte anfahren, als ich ihn noch gerade stoppen konnte. Ute!
Sie war unser gemeinsamer Schwarm und so hatten wir von ihr ein großformatiges Portrait an der Mittelkonsole wie auf einem Maialtar angebracht und das mussten wir natürlich noch entfernen. Dann konnte Rainer losfahren. Der Auspuff war leicht defekt und so hörte ich ihn durch die Schlucht des Tarn röhren, dann erlosch das Geräusch, um danach wieder erneut loszudonnern. Er hatte angehalten und das Mädchen aufgegabelt.
Einige Zeit später, ich hörte es schon, kam er zurück - mit einer Flasche Rotwein. Kein zweiter Kopf im Auto? Das Mädchen hatte die Mitnahme dankend abgelehnt. Mit Frauen hatten wir beide irgendwie kein Glück. Das Bild von Ute wurde wieder installiert.
Im Übrigen versetzten uns die ‚Gorges du Tarn' in Verzücken wie keine andere Schlucht, von denen es in Frankreich zahlreiche gibt. Immer wieder sind sie ausgeschildert ‚Gorges du...'.Nachts träumte ich schon von einer Zeitungsserie ‚Durch alle Schluchten Frankreichs'. Ja, das wär' doch was für uns.
Es setzte Regen ein, der uns nach Agde an die Küste brachte. Auch dort regnete es und aus Angst vor einer nassen Nacht im Zelt, haben wir den Kühlschrank von der Rückbank ins Zelt gestellt, um dann, die Rückenlehnen runtergeklappt, im Auto zu übernachten. Das war dann zwar nicht bequem, aber trocken.
Anderen Tags schien wieder die Sonne und wir nahmen wieder unseren Weg landeinwärts und kamen nach Anduze. Der Eger! In einer Eckkneipe fragte ich nach ihm (wie spricht man das noch mal französisch aus?). Der Wirt verstand: "Ah, le peintre!" Zufällig war gerade ein Angestellter von ihm in der Kneipe, ein waschechter Franzose. Er musste ohnehin zu seinem Meister aufbrechen und so konnte er mit uns fahren und den Weg zeigen. Angesichts des deutschen Nummernschildes wechselte er seine Sprache in reines Kölsch. Warum kann ein ‚waschechter Franzose' nicht auch ein Kölner sein? Wir trafen den Eger, der sich gerade für eine neue Eger-A-Tour fertig machte und halfen noch seinen uralten Renault-Kastenwagen an zu schieben, dessen Anlasser oder Batterie nicht funktionierte, wie das bei waschechten Franzosen eben oft so ist.
Durch die Provence führte uns der Weg weiter allmählich zurück. In den Alpen haben wir mittags in einem Restaurant gegessen, dass direkt an der Rhône lag. "Siehst du, die Rhône" oder im bayrischen Dialekt, den wir in gebirgigen Gegenden schon mal gerne praktizierten, "Siast, a Rhôn". Sofort war uns etymologisch klar, wo der Ortsname ‚Sisteron' nur her kommen konnte.
Wir hatten unseren ersten Gang schon hinter uns und warteten auf den zweiten, Forelle Müllerin. Obwohl der erste Hunger gestillt war, lief uns das Wasser im Munde zusammen, als eine große, brutzelnde Platte herein getragen wurde, die der Größe nach zu urteilen nur für die vier Personen am Nebentisch bestimmt sein konnte. Denkste, uns wurde der zweite Gang serviert, gefolgt von Hauptgang, Käse, Dessert...
Zufällig kam ich an die zwanzig Jahre später mit Familie auf dem Weg in den Süden wieder auf der Suche nach einem Quartier an diesem Hotel-Restaurant vorbei. Unsere Spuren kreuzten sich eben immer wieder. Es war klar, dass wir hier blieben. Sofort wurden diese Szenen wieder wach. Wir haben hier wieder prima gegessen und für ein Vierbettzimmer 90 Francs bezahlt.
Die Rückfahrt führte uns durch Jura und Elsass mit Straßburg und Hagenau. Uns war das aber gegenüber dem Süden zu deutsch. Das Elsass hat eben seinen eigenen Reiz und sollte wohl besser gesondert bereist werden.
Letzte Reise
Nach seinem Studium bekam Rainer eine Stelle in einem bedeutenden Hannoveraner Büro. Erst Ende Oktober konnte er da Urlaub nehmen. Ich meinerseits inzwischen auch arbeitstätig hatte nur noch eine Woche Urlaub übrig. Die wollten wir nutzen, um in die Bretagne zu fahren, ein neues Stück Frankreich kennen zu lernen.
Bisher hatte uns auch Paris nicht interessiert. Ich hatte es meinerseits zwei Jahre zuvor entdeckt und fühlte mich auf Anhieb dort zu Hause. So schlug ich vor, den Rückweg über Paris zu nehmen. Rainer könnte, wenn er wolle, da noch ein paar Urlaubstage verbringen, ich könnte von dort auch mit dem Zug zurückfahren.
Wie gesagt es war Ende Oktober, aber was soll's, dachten wir, wenn es draußen stürmt und schneit ist es in den Kneipen umso gemütlicher. Da wir keine armen Studenten mehr waren, wollten wir ohnehin in Hotels übernachten. Es war eine Woche herrlichsten Sonnenscheins, so zusagen jupp-hei-di durch die Bretagne.
Über Amiens, Rouen, Honfleur und Mont St. Michel reisten wir an. St. Malo umwanderten wir abends nach opulentem Essen zur Verdauung und Ernüchterung auf dem Umgang der Stadtmauer. Dinan war am anderen Tag die Entdeckung. Aber auch die Natur begeisterte uns wie das Cap Frehel oder die Weitläufigkeit der Strände bei Ebbe.
Dazu ist die Bretagne das El Dorado zum Genuss von ‚fruits de mer', von der Speisekarten und Teller nur so strotzen. In Erquy haben wir uns abends besonders gütlich daran getan. Der obligatorische Verdauungsspaziergang führte uns am Hafen vorbei mit seinen bunten Fischerbooten, die auf dem Grund des Hafenbeckens lagen: es war Ebbe. In der Mitte ein altes, ramponiertes Boot, das sicher bei Flut dort genauso ruhig liegen blieb, mutmaßten wir. "Erquy meldet dann ‚Schrotte unter'" dachten wir analog zu den Halligen aus.
Um den Westzipfel der Bretagne, mangels Zeit, abzuschneiden stießen wir danach nach Süden vor, das heißt, mir war mehr nach aufstoßen, wenn ich nur gekonnt hätte.
Wir wechselten uns tageweise mit Fahren ab und ich war gerade an der Reihe. Irgendwie war mir aber unpässlich und nur allein das Aus- und Einkuppeln war mir schon zuviel, so dass ich das Steuer vorzeitig an Rainer abgab. "Du hast bestimmt ein Magengeschwür, das kommt von dem Ärger mit den Frauen", diagnostizierte er fachkundig. In der Tat klappte das mit meiner damaligen Liebe nicht so, wie ich wollte. Er empfahl mir für mittags ein leichtes Mahl und einen Tee. "Blödsinn, wozu sind wir in Frankreich? Ich trinke erst mal einen Pastis, das ist die beste Medizin."
Der Pastis half immerhin, mich stark genug für ein Menu mit Rotwein zu fühlen. (damals aßen wir mittags und abends noch je ein komplettes Menu!). Beim Dessert hielt ich es aber nicht mehr aus. Wir hatten damals eine gemeinsame Kasse für alle gemeinsamen Ausgaben, wie Essen, für das man in Frankreich immer nur eine gemeinsame Rechnung erhält. Das war unsere ‚ caisse commune' oder ‚caisse communale' (eigentlich Gemeindekasse), die wir immer wieder zu gleichen Teilen auffüllten. Ich trug sie bei mir und gab sie Rainer: "Bezahl du, ich muss sofort aufstehen und Bewegung haben". Das brachte ein wenig Linderung. Im Auto drehte ich die Rückenlehne zurück und öffnete meinen Hosenbund. So hielt ich es besser aus und nickte ein.
Ich wurde durch den Aufschrei "Scheiße" wach und schon krachte es. Wir waren auf einer unübersichtlichen Kreuzung mit einem Simca zusammengestoßen. Ich musste erst mal meine Hose wieder richtig anziehen, um auszusteigen und den Schaden zu besehen: Der Simca war vorne ziemlich platt und das Wasser lief aus dem Kühler. Wir mit Volvo hatten im vorderen Kotflügel einen "Blötsch", der sich so weit herausziehen ließ, dass wir weiterfahren konnten.
Bei Locmariaquer fanden wir ein recht nobles Hotel mit beeindruckend langer Hotelhalle. Auf dem Weg zu unserem Zimmer im ersten Stock fiel mir noch die Toilette auf. Inzwischen war es mit meinem Magen doch so schlimm, dass ich nur einen Tee und etwas Leichtes, eine Scholle bestellte.
Kaum hatten wir die Bestellung aufgegeben, als mein Mageninhalt nach oben drängte. Ich erhob mich, durchmaß das lang gezogene Restaurant immer schneller werdend, legte in der Hotelhalle noch einen Schritt drauf, lief die Treppe herauf, riss die Toilettentür auf, jedoch um Sekundenbruchteile zu spät. In gewaltiger Eruption brach es aus mir hervor, die grünlich tapezierten Wände färbten sich rot vor Rotwein. Ansonsten ließ sich das Mittagessen durchaus auch noch rekonstruieren.
An der Rezeption sagte ich, ich sei auf der Toilette gewesen, weil mir nicht gut gewesen sei. Die Dame dort nahm es gleichmütig hin. Ich musste deutlicher werden, aber wir hatten auf der Schule (auf der man doch angeblich fürs Leben lernt) keine entsprechenden Vokabeln vermittelt bekommen. Also musste ich zu Gebärden greifen. Auch das erschütterte die Dame nicht. Die Wände seien aber verschmutzt. "Dann müssen wir sie wieder sauber machen", war die unerschüttert ruhige Antwort. (Dabei fällt mir jetzt ein, ob dies da wohl öfter vorkommt, da die so gelassen reagierten?)
Wieder im Speisesaal bestellte ich ohne Probleme meine Scholle ab, trank den Tee und begab mich zu Bett. Auf dem Weg an der Toilette vorbei registrierte ich, dass ein Mädchen bereits mit den Aufräumungsarbeiten begonnen hatte. Mich packte Schüttelfrost, ich wickelte mich dick ein und schlief fest. Am anderen Morgen war ich wieder fit. Für das Mädchen der Reinigung hinterließ ich ein gutes Trinkgeld und die Sache war erledigt.
Offenbar war mir von den Meeresfrüchten ein Müschelchen oder Kräbbchen nicht bekommen.
Das tosende Meer mit donnernden Wellen an der Côte Sauvage waren ein weiteres Naturerlebnis wie ein Sumpfgelände, durch das wir kamen. Auf einer Brücke hielten wir an, unter uns ein ruhiger Kanal, beiderseits hoch mit Schilf bestanden. Ein Fischer stand da mit einem schmalen Boot und winkte uns zu. Er bot uns an, uns per Boot das schilfbestandene Wasserrevier zu erschließen. Warum nicht? Es war ein Erlebnis der besonderen Art. Beim Ausstieg aus dem Boot passierte das Malheur: Rainers teure Olympus fiel ins Wasser.
Wie sich später herausstelle, war sie nicht mehr zu reparieren und Rainer musste sich eine neue kaufen. Ich weiß nicht, ob er überhaupt damit noch mal fotografiert hat.
Dennoch, wir waren von der Bretagne beeindruckt, mussten uns aber auf den Weg nach Paris machen. Es war inzwischen 1. November und Wochenende und in dieser Verbindung Paris voller Touristen, die das verlängerte Wochenende zu einem Städtetrip nutzten. Zudem hatte es zu regnen angefangen.
Um St. Germain herum war kein Hotel mehr zu bekommen. Ganze Straßenzüge klapperten wir ab, ohne Ergebnis. In einem Hotel hätten wir ein ‚grand lit' bekommen können, aber Rainer weigerte sich standhaft; er wusste vom Camping nur zu gut, was für ein unruhiger Schläfer ich bin (Er behauptete immer, ich würde mich nachts ein Stück in die Luft hochschmeißen, mich dort blitzschnell umdrehen und auf die andere Seite fallen lassen).
Wir versuchten unser Glück dann in der Cité Bergère, wo ein Hotel neben dem anderen steht. Alles besetzt. Schließlich fanden wir ein Stück weiter dann doch noch in einem Hotel der gehobenen Klasse ein Zimmer und direkt gegenüber dem Eingang sogar einen Parkplatz, der ja fast soviel Wert ist wie ein Zimmer. Inzwischen hatte der Blötsch im Kotflügel zu rosten begonnen und so bot sich dem imposant uniformierten Portier vor dem Hotel ein Anblick, der nicht ganz dem Niveau des Hauses angepasst war.
Egal, auch Rainer hat es aus Anhieb in Paris gefallen und der Regen hatte sich auch wieder gelegt.
In der ‚Orangerie', wo wir eigentlich die Impressionisten sehen wollten, die da damals noch hingen, war eine Sonderausstellung: Caspar David Friedrich. In Erinnerung an Bildbeschreibungen im Deutschunterricht verursachte mir der Name fast soviel Schüttelfrost, wie meine Fischvergiftung. Aber nun waren wir da und - waren begeistert.
Die Naturbilder auf Rügen, war es nicht das, was uns auch in der Bretagne begeistert hatte? Die zwei Männer im Mondschein am Meer, hätten nicht auch wir das sein können? Auf einmal waren wir von einem Maler tief ergriffen, zu dem ich sonst nie in eine Ausstellung gegangen wäre. (Vor einiger Zeit habe ich wieder in Berlin in der alten Nationalgalerie vor diesem Bild gestanden, vor dem ich damals mit Rainer gestanden habe. So gibt es immer wieder Momente lebendiger Erinnerung.)
Sonntagmorgen gingen wir auf den Markt in der Rue Mouffetard. Dort trank ich einen Pastis, Rainer einen Tee. Der Tisch mit den Getränken bot ein so herrliches Bild von einem Stillleben, dass ich es fotografiert habe, heute ein Bild der Erinnerung.
Höhepunkt am letzten Abend war ein Besuch auf dem Montmartre, der abends immer besonders stimmungsvoll ist. Bei meinem ersten Parisaufenthalt hatte ich an der Ecke zur Place du Tertre ein Lokal entdeckt, ‚Au clairon de chasseur' mit einer verglasten Ecke, in der zwei Zigeuner (darf man das heute überhaupt noch sagen oder heißt das zwei Sinti oder zwei Roma oder ein Sinti und ein Roma?) saßen, ein Wohlbeleibter mit Schnauz, Maurice, Leadgitarre und ein Schmächtiger, Joseph, Begleitung.
Die beiden spielten einen hinreißenden Zigeunerjazz à la Django Reinhardt. Die Kneipe war immer voll und offenbar kamen viele Pariser dahin, Stammkunden, die die beiden kannten und begrüßten. Über den beiden hing eine Wäscheleine mit Klammern und einer Hupe. Erfüllten sie einen Musikwunsch oder wollte man seiner Begeisterung monetären Ausdruck verleihen, reichte man einen Geldschein (zu Zeiten von Fünf-Franc-Scheinen noch nicht zu teuer) und es wurde zum Dank gehupt und der Schein an der Leine aufgehängt, die im Laufe des Abends immer voller wurde.
Irgendwie stiftete das "Öök, Öök" der Hupe dazu an. Wir waren begeistert und dazu trugen natürlich zuerst die beiden mit ihrer Musik, aber auch Mimik und Gehabe bei, dann das Publikum, das lebendig mitging, und nicht zuletzt und zu knapp der Rotwein.
Wir waren schon ziemlich voll, als ein hübsches, junges, dunkelhäutiges Mädchen hereingewirbelt kam und sich just neben uns niederließ. Sofort war der Kontakt da. Ich weiß nicht mehr, was wir alles gequatscht haben, jedenfalls war es ein Grund mehr zu bleiben und zu trinken.
Zum Schluss stolperten wir nur noch in ein Taxi und Rainer sagte später, dass er mich bewundert habe, wie ich noch mit klarer Stimme das Fahrziel angegeben habe, er hätte das weder gewusst noch mehr gekonnt.
Am anderen Morgen erwachten wir mit dickem Kopf. Es war Montag und eigentlich hätte ich wieder arbeiten müssen, da meine Urlaubstage um waren. Da Rainer aber doch nicht noch allein Paris bleiben wollte, hatte ich durch Plusstunden meinen Urlaub durch eine Freistellung am Montagmorgen verlängert, was in solchen Fällen einmal im Monat möglich war. So brauchte ich erst zu Beginn der Kernarbeitszeit um halb drei im Büro zu sein.
Vor der Abfahrt machten wir aber noch einen Einkaufsbummel. Bei den Hallen kauften wir noch Meeresfrüchte, denn damit wollten wir abends bei mir den Urlaub ausklingen lassen.
Solchermaßen (unterwegs war uns im Regen bei Verviers noch ein Scheibenwischer weggeflogen) kamen wir pünktlich um halb drei an. Um vier konnte ich bereits wieder Schluss machen. Wir hatten noch Bekannte eingeladen und zelebrierten zusammen bei fruits de mer das Ende der Fahrt.
Es war unsere letzte Reise, ein halbes Jahr später verstarb Rainer. Seinem Gedenken aus besonderem Anlass sind die Zeilen angefügt.
Seitdem bin ich immer wieder nach Frankreich gefahren, mit meiner Frau, den Kindern, anderen Freunden, habe Neues entdeckt, Altes immer wieder noch mal genossen und vertieft. Jede Reise hatte ihre Reize, aber eben doch wieder ganz anders als auf den ersten Entdeckungsfahrten.
Die Camargue
Rainer Grenner
Die Camargue gehört zur Provence, sie ist ein Teil von ihr und doch ganz anders geartet. Sie ist das Schwemmland zwischen den beiden Rhônearmen, grand und petit Rhône, in die der Fluss sich oberhalb von Arles teilt. Dieses Gebiet ist einem ständigen Wechsel unterworfen; das zeigt sich vor allem an den welligen Straßen und der sich stets verändernden Küste.
Verantwortlich für die Gestalt der Camargue waren die Rhône und ihre Nebenflüsse, in der Hauptsache die Durance. Sie entspringt zwischen Grenoble und Turin in den Hautes Alpes. So führt die Rhône Wasser von der Schweiz, den Seealpen, den Cevennen und dem Jura dem Meere zu. Durch die bei Hochwasser mitgeführten Schuttmassen wuchs das Rhônedelta jedes Jahr um etwa 60 Meter ins Meer hinaus. Jedes Jahr führte die Rhön der Camargue etwa einen Quadratkilometer Land zu.
Es ist eintöniges Land, ab und zu unterbrochen durch brackige Lagunenseen und Salz- oder Sumpfflächen, ein idealer Lebensraum für die kleinen, halbwilden Pferde und Stiere, die von den Gardians, den Stierhirten gehütet werden. Sie sind eine Reiterhorde, die mit ihren Pferden verwachsen scheint. Sie bewohnen die Schilfhütten mit dem weißen Dachkamm und dem geneigten Kreuz.
Von Arles kommend ist der Boden der nördlichen Camargue, des ältesten Schwemmlandes, bebaut. Durch Kanäle be- und entwässert, trägt er Weizen und Wein und seit einigen Jahren auch, vor allem nördlich des Vaccarès-Deiches, Reis. In Feldern, zum Schutz vor dem Mistral von Zypressenhecken umgeben, wird er von spanischen Reisarbeitern gezogen. Der Reisanbau wird seit dem Kriege sehr gefördert, so dass in Kürze die Camargue den Reisbedarf Frankreichs nahezu decken kann.
Die Camargue ist ständig im Wandel, nicht allein geographisch auch wirtschaftlich; sie zieht Scharen von Touristen an und verliert nach und nach mehr von ihrer Ursprünglichkeit. Auch die Zahl der Stiere, Pferde und Flamingos nehmen ab. Die Camargue wird nicht mehr weiterwachsen, denn Stauwerke fangen die Schlamm- und Wassermassen ab. Wachsen werden in Zukunft die Reisfelder, Hotels und Bungalows. Noch liegen am Strand die Fischerboote wie Van Gogh sie gemalt hat. Doch wie lange noch?